OLG Frankfurt vom 02.12.1998 (1 UF 318/98)

Stichworte: Entführung Aufenthaltsstaat gewöhnlicher Aufenthalt (mehrfach)
Normenkette: HaagerEntführungsAbk
Orientierungssatz: Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung; gewöhnlicher Aufenthalt eines Kindes (gleichzeitig) in zwei Staaten. ....Es (ist) letzten Endes nicht sachgerecht ...., das Abkommen auf Sachverhalte anzuwenden, in denen ein Kind in zwei Ländern einen gewöhnlichen Aufenthalt hat und vom einem dieser Länder in das andere verbracht wird.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main

B E S C H L U S S

In der Familiensache

hat der 1. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluß des Amtsgerichts -Familiengericht- Hanau vom 04. November 1998 am 02. Dezember 1998 beschlossen

Der angefochtene Beschluß wird abgeändert:

Der Antrag der Antragstellerin, die Widerrechtlichkeit des Verbringens des Kindes xxxx xx xx, geboren am 09.04.1993, nach Spanien zu bescheinigen, wird zurückgewiesen.

Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Beschwerdewert: 1.000,00 DM

G r ü n d e :

Die Beteiligten sind die Eltern des am 09.04.1993 geborenen Kindes xxxx xx. Zwischen ihnen ist beim Amtsgericht Seligenstadt ein Ehescheidungsverfahren anhängig. Die Parteien lebten in der Vergangenheit teilweise in H.. Zum Teil hielten sie sich auch in einer Wohnung des Antragsgegners in Gibraltar auf, in der dieser seit Oktober 1994 gemeldet ist. Die Antragstellerin ist nach wie vor in H. gemeldet. Das gemeinsame Kind xxxx xx hielt sich bis Frühjahr 1998 überwiegend in H., teilweise aber mit den Eltern auch in der Wohnung in Gibraltar auf. Im August 1997 vereinbarten die Eltern mit dem Leiter der deutschen Schule in Marbella die Aufnahme des Kindes in die der Schule angegliederte Vorschule. In diese Vorschule trat xxxx im April 1998 ein. Zuvor hatte er den Kindergarten in H. besucht. Der Antragsgegner hatte inzwischen ein Haus in der Nähe von Marbella erbaut. Während der spanischen Sommerferien hielt sich xxxx in der Zeit vom 29.06. bis 18.09.1998 wieder in H. auf, wo er auch den Kindergarten besuchte. Vom 18.09. bis 11.10.1998 besuchte er wiederum die Vorschule in Spanien. Am 11.10.1998 flog er zusammen mit der Antragstellerin, die sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in Spanien aufhielt, zurück nach Deutschland, wo beide am Flughafen vom Antragsgegner abgeholt wurden. Am 21.10.1998 holte der Antragsgegner xxxx ohne Kenntnis der Antragstellerin in H. am Kindergarten ab und flog mit ihm wieder nach Spanien, wo sich xxxx seitdem befindet. Inzwischen hat ihn die Mutter dort wieder besucht. Die Antragstellerin hat ein Verfahren auf Rückführung des Kindes nach Deutschland nach Maßgabe des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im folgenden: Abkommen) anhängig gemacht. Im vorliegenden Verfahren hat sie beim Amtsgericht die Ausstellung einer Bescheinigung über die Widerrechtlichkeit der Verbringung des Kindes nach Spanien gemäß Art. 15 des Abkommens beantragt. Das Amtsgericht hat dem Antrag stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, daß das Kind zumindest auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland habe und der Flug am 21.10.1998 von Deutschland nach Spanien im Gegensatz zu den früheren Reisen des Kindes von Deutschland nach Spanien oder zurück nicht im Einverständnis beider Elternteile, sondern gegen den Willen der Mutter erfolgt sei. Mit seiner Beschwerde wendet sich der Vater gegen diese Entscheidung des Amtsgerichts.

Die Beschwerde ist nach § 19 FGG zulässig (im einzelnen dazu Senatsbeschluß vom 20.02.1997 - 1 UF 22/97).

Sie ist auch begründet. Allerdings ist das Amtsgericht entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers im Rahmen seiner internationalen Zuständigkeit tätig geworden. Zuständig für die Erstellung einer Bescheinigung über die Widerrechtlichkeit des Verbringens eines Kindes im Sinne des Abkommens sind die Behörden des Staates, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art.15 des Abkommens). Das Kind hat, wie das Amtsgericht zu Recht festgestellt hat, seinen gewöhnlichen Aufenthalt auch in Deutschland. Bis April 1998 konnte hieran kein Zweifel bestehen. Auch wenn sich xxxx in der Vergangenheit häufig in Spanien mit den Eltern aufgehalten hat, war sein Lebensmittelpunkt in H., wo er den Kindergarten besuchte. Anders als in Deutschland fand in Spanien eine derartige soziale Integration, die in hohem Maße in einem regelmäßigen Kindergartenbesuch liegt, nicht statt. Diese Situation änderte sich jedoch ab April 1998 mit dem Besuch der Vorschule in Spanien. Jedenfalls bis Oktober 1998 hat sich diese Situation so verfestigt, daß nunmehr ein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes auch in Spanien vorlag. xxxx hatte bis zu den Sommerferien die Vorschule in Spanien besucht, war nach den Sommerferien dorthin zurückgekehrt und hat die Vorschule dann wieder bis 11.10.1998 besucht. Es bestehen keine Anhaltspunkte, daß sich an dieser sozialen Integration, die inzwischen in Spanien stattgefunden hatte, durch die Reise nach Deutschland am 11.10.1998 etwas geändert haben sollte. Die Mutter behauptet selbst nicht, daß zu diesem Zeitpunkt ein Plan beider Eltern bestanden hätte, daß xxxx nunmehr auf Dauer in Deutschland bleiben und die Vorschule in Spanien nicht mehr besuchen sollte. Die Situation am 21.10.1998 stellte sich also so dar, daß einerseits eine soziale Integration in Spanien sich durch den Besuch der Vorschule seit etwa einem halben Jahr verfestigt hatte, daß andererseits die soziale Integration in Deutschland noch fortbestand, was sich dadurch zeigte, daß xxxx den Kindergarten in H. während der Sommerferien und auch während seines 10tägigen Aufenthalts in Deutschland im Oktober besucht hatte. Beide Eltern hatten den Lebensmittelpunkt xxxxs in Deutschland nicht aufgegeben, was dadurch zum Ausdruck kommt, daß er nach wie vor in H. gemeldet war und, was von erheblicherer Bedeutung ist, er weiter den Kindergarten über beachtliche Zeiträume auch nach April 1998 besuchte. Sie hatten allerdings dem Lebensmittelpunkt xxxxs in Deutschland einen weiteren Lebensmittelpunkt, nämlich den in Spanien, hinzugefügt.

Die Frage, ob ein Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in verschiedenen Ländern haben kann, wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet. Während die eine Auffassung dies für möglich hält (BayObLGZ 1980, S. 52, 56; Münchener Kommentar zum BGB-Siehr 3. Auflage, Artikel 19 EGBGB Anhang I. Rndnr. 26), hält die Gegenmeinung diese Annahme für "graue Theorie, die im Leben so nicht vorkomme" (Staudinger-Kropholler BGB 13. Auflage, vor Artikel 19 EGBGB Rndnr. 142). Der Senat folgt der erstgenannten Auffassung. Der vorliegende Fall zeigt, daß eine derartige Konstellation, bei der der Lebensmittelpunkt eines Kindes gleichermaßen zumindest für einen gewissen Zeitraum in zwei verschiedenen Staaten begründet ist, möglich ist. Allerdings handelt es sich dabei um eng begrenzte Ausnahmefälle. Spätestens dann, wenn das Kind in Spanien nach dem Besuch der Vorschule und Einsetzen der Schulpflicht eine spanische Schule besuchen sollte, wäre dann voraussichtlich von einer so starken Integration in Spanien auszugehen, daß ein daneben bestehender gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland nicht mehr angenommen werden könnte. Dies kann jetzt aber, nach einem Vorschulbesuch von einem halben Jahr, der im übrigen durch mehr als zweimonatige Sommerferien unterbrochen war, noch nicht angenommen werden.

Obwohl xxxx xx seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Oktober 1998 auch noch in Deutschland hatte, stellt sich seine Mitnahme durch den Vater nach Spanien am 21.10.1998 nicht als widerrechtliches Verbringen des Kindes im Sinne des Artikel 3 des Abkommens dar. Das Abkommen soll sicherstellen, daß Kinder, die ohne Zustimmung eines sorgeberechtigten Elternteils aus ihrer familiären und sozialen Umgebung herausgenommen werden, rasch wieder dorthin zurückgeführt werden (Perez-Vera, erläuternder Bericht zum Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, Bundestags- Drucksache 11/5314 S. 40 unter Ziffer 12). Dies kommt auch in der Präambel zum Ausdruck in der es heißt, daß das Abkommen die sofortige Rückgabe eines Kindes in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherstellen soll. Dieser Gesichtspunkt kann nur dann zum Tragen kommen, wenn das Kind in einen Staat verbracht wird, in dem es nicht zumindest auch bisher schon seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Hat aber das Kind, wie es hier ausnahmsweise der Fall ist, in zwei Staaten seinen gewöhnlichen Aufenthalt, so wird es durch das Verbringen vom einen Staat in den anderen nicht seines gewöhnlichen Umfelds und seiner sozialen Bezüge beraubt. Das Abkommen findet auf derartige Fallgestaltungen keine Anwendung.

Die demgegenüber vom Amtsgericht vertretene Auffassung führt zu Zufallsergebnissen, die vom Zweck des Abkommens nicht gedeckt sind. Das Amtsgericht ist bei seiner Entscheidung davon ausgegangen, daß sich der Daseinsmittelpunkt zumindest auch noch in Deutschland befindet. Diese Formulierung zeigt, daß auch das Amtsgericht einen daneben bestehenden gewöhnlichen Aufenthalt in Spanien zumindest für möglich hält. Grundlage für die Bescheinigung der Widerrechtlichkeit durch das Amtsgericht ist danach, daß das Amtsgericht zwar einen gewöhnlichen Aufenthalt auch in Spanien für möglich hält, eine Widerrechtlichkeit des Verbringens des Kindes dorthin aber darin sieht, daß die Mutter dem nicht zugestimmt hatte, während die vorherigen Aufenthaltswechsel des Kindes zwischen Deutschland und Spanien jeweils einverständlich erfolgten. Diese Auffassung kann leicht zu zufälligen Ergebnissen führen, die nicht sachgerecht erscheinen. Hätte nämlich der Vater vor dem 11.10.1998 dem Flug des Kindes nach Deutschland und der damit verbundenen Unterbrechung des Vorschulbesuchs nicht zugestimmt und wäre die Mutter gleichwohl mit dem Kind nach Deutschland geflogen, so hätte es vom Standpunkt des Amtsgerichts nahegelegen, die Verbringung des Kindes am 11.10.1998 von Spanien nach Deutschland als rechtswidrig anzusehen. Dies zeigt, daß es letzten Endes nicht sachgerecht ist, das Abkommen auf Sachverhalte anzuwenden, in denen ein Kind in zwei Ländern einen gewöhnlichen Aufenthalt hat und vom einem dieser Länder in das andere verbracht wird.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 13 a FGG, Art. 26 des Abkommens.

Dr. Eschweiler Carl Noll